340 Jahre Haupt- und Residenzstadt

Haupt- und Residenzstadt – Entstehungsgeschichte 

Lauterbach war von 1684 bis 1806 die Hauptstadt des Reichsbaronats der Riedesel Freiherren zu Eisenbach, Erbmarschalle zu Hessen. Vorher hatte die Fürstabtei Fulda die Riedesel als Vögte in Lauterbach und dem Ostvogelsberg eingesetzt, wo diese sich in den Jahren zwischen 1429 und 1684 immer mehr Grundeigentum erwarben, insbesondere aber die Erbschaft der Herren von Eisenbach pflegten. „Residenz“ bezeichnet den Ort, an dem ein Landesregent ständig Hof hält oder auch wohnt. Lauterbach war ab dem beginnenden 16. Jhr. ständiger Wohnsitz eines Familienastes der Riedesel, die allmählich in der Stadt ihre Verwaltung installierten. Immer mehr wichtige Verwaltungsinstitutionen wurden vom Stammschloss Eisenbach nach Lauterbach verlegt. Ende des 16. bzw. Anfang des 17. Jahrhunderts war Lauterbach also zwar bereits Residenz, also Wohnort und Ort der Hofhaltung für die Riedesel, aber noch keine Hauptstadt – da der Fürstabt nach geltendem Reichsrecht ihr Gebieter war. Das änderte sich allerdings 1684, als die Riedesel sich der Herrschaft des Abtes auf juristischem Wege entledigten. Ihre Ländereien waren nun als geschlossenes Territorium „reichsfrei“, also politisch gleichsam souverän wie das Kurfürstentum Brandenburg-Preußen, die Landgrafschaft Hessen-Kassel oder die Reichsstadt Frankfurt am Main. Der Einzugsbereich, für den die Stadt Lauterbach als Haupt- und Residenzstadt zum Fixpunkt wurde, erstreckte sich von Freiensteinau im Süden bis Maar und von Dirlammen bis Angersbach. In gewissem Maße gehörten auch die hessisch-riedeselschen Exklaven Ludwigseck und Oberohmen hierzu. Die gesamten Flächenausmaße des Riedesellandes übertrafen zum Vergleich die heutige Landesfläche von Liechtenstein.

Residenzstadt Lauterbach - Bedeutung für Lauterbach

Lauterbach wurde von einer einfachen Landstadt der Fürstabtei Fulda (de jure) in einem langwierigen Prozess zu einer Haupt- und Residenzstadt eines Ritterschaftsstaates. Das bedeutete für die Stadt einerseits, dass die Regierung nun direkt „vor der Haustüre“ saß; andererseits, dass man nun die Möglichkeit hatte, von der Unterhaltung des Hofstaates zu profitieren. Mit den Riedesel konzentrierten sich nun kaufkräftige „Kunden“ auf die Verbesserung der städtischen Infrastruktur. Für große Bauprojekte engagierte man vornehmlich heimische Handwerker, die sich zunehmend spezialisierten. Aus einer kleinen „Ackerbürgerstadt“ wurde eine repräsentative Mittelstadt. Die etlichen kleinen Landwirtschaften wanderten an den Stadtrand, während die Innenstadt immer mehr von Handel und Handwerk geprägt wurde. Durch die Anwesenheit des Hofes und die relative Freiheit der führenden Bürger entwickelten sich über Jahrhunderte hinweg Spitzenprodukte: Damast-, Bild- und Grobgewebe, die bis nach New York, Havanna und Kalkutta exportiert wurden; ein großes, exportorientiertes Metzgereigewerbe und hessenweit verbreitete Lederwaren. Die Riedesel stifteten Stipendien für Messerschmiede-Gesellen, die ihre Ausbildung dadurch im vorindustriellen England machen konnten. Die Schlosserei Schmidt konkurrierte mit ihrer Produktpalette mit den königlichen Hoflieferanten Europas. Dem Lauterbacher Büchsenmacher Tanner wurde nachgesagt, die besten Gewehre und Jagdwaffen Hessens zu produzieren. In Lauterbach siedelten sich Kaufleute-Bankiers und die einzige Hochsee-Reederei des heutigen Bundeslandes Hessen an. Die hohen weltlichen und geistlichen Beamten machten Lauterbach zu einer intellektuellen Hochburg und einem Glutnest der Aufklärung im sonst bitterarmen Vogelsberg. Der Residenzcharakter blieb Lauterbach auch nach der Annexion durch Hessen 1806 erhalten. Die Riedesel hielten weiter Hof und noch bis ca. 1900 errichteten sie neue Schlösser, um zeitgemäß in Lauterbach zu residieren. Zu Beginn des 20. Jhr. erlebte die Residenzstadt Lauterbach, die aber längst nicht mehr Hauptstadt war, eine kurze neue Blüte: Durch Exzellenz Moritz Riedesel weilte der letzte Russische Zar Nikolaus II. hier; Leonhard Bauer wurde zum Großmeister europäischer Jugendstilkunst und gewann in St. Petersburg und Brüssel mit seinen Töpferwaren Preise en masse; die berühmten Parkarchitekten Siesmayer wirkten vor Ort.

Residenzstadt – fachliche und sachliche Darstellung

Zur sachlich korrekten Darstellung gehört eine kritisch-analytische Auseinandersetzung mit den Spannungsfeldern der Residenz-Thematik. Die Konstitutionsphase der Riedeselherrschaft (de jure) verlief zwischen 1693 und 1699 gar blutig und die Spaltung der Bürgerschaft in Riedesel-Klientel und Vorstädter drohte. 1848 brach sich dann im Nachgang der Hass der unteren Klassen Bahn und die 48er Revolution schlug sich besonders hart in Lauterbach nieder. Krawalle, Verletzte und Zuchthausstrafen waren die Folge. Es gilt die Erörterung anzustellen, welche Faktoren bei diesen Ereignissen eine Rolle spielten, wie es dazu kommen konnte und welche Problematiken im weltgeschichtlichen Kontext erklärt werden können.

Residenzstadt – als Narrativ der Region und Verbindungen zu anderen Orten aufbauen

Deutschland war vor 1806 als „Flickenteppich“ Europas bekannt, da hier noch kein Nationalstaat wie in Frankreich oder Großbritannien existierte. Der deutsche Sprachraum war geprägt von einer riesigen Vielfalt von Ländern und Staatsmodellen: Vom absolutistischen Zentralstaat Preußen über kleine Grafschaften, geistliche Wahlfürstentümer, freie Reichsstädte wie Frankfurt am Main bis hin zu den Ritterschaftsstaaten, die meist nur aus wenigen kleinen Dörfern bestanden. Im Osten und Norden Deutschlands dominierten jedoch große Flächenstaaten das Geschehen. Im Süden erstarkte zunehmend das habsburgische Österreich. Der Südwesten war die eigentliche Landschaft, die Deutschland den Beinamen des „Flickenteppichs“ einbrachte. Für die Region des Vogelsberges wurde das Nebeneinander völlig unterschiedlich großer und unterschiedlich strukturierter Staaten kennzeichnend. Der größte Staat war die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt, dessen Provinz Oberhessen weite Teile des Vogelsberges umfasste (Alsfeld, Romrod, Ulrichstein, Schotten, Homberg an der Ohm, Grünberg). In der Grenzregion zwischen Wetterau und Vogelsberg dominierte der „Wetterauer Grafenverein“ nebst anderen kleinen weltlichen Herrschaften: Die Grafschaft Solms-Laubach (Residenzstadt Laubach), das Fürstentum Solms-Hohensolms-Lich (Residenzstadt Lich), die Grafschaft Isenburg-Büdingen (Residenzstadt Büdingen) und viele weitere. Den Osten Hessens dominierte das Fürstbistum Fulda (Herbstein), an dessen Peripherie eine Zahl kleinerer Ritterschaftsstaaten heranwuchs. Bedeutend wurden die Herrschaften der Freiherren von der Tann (Residenzstadt Tann), der Freiherren von Ebersberg (Residenzstadt Gersfeld), der Grafen von Schlitz (Residenzstadt Schlitz) und der Freiherren Riedesel (Residenzstadt Lauterbach). Der Ritterschaftsstaat der Riedesel machte unter diesen eine Ausnahmeerscheinung aus, da er die üblichen Ritterschaftsstaaten in Franken flächenmäßig und an Einwohnern weit übertraf. Er war sogar größer als manche Grafschaften und Kleinfürstentümer. In Lauterbach war eine ungewöhnlich ausdifferenzierte Hofhaltung vorhanden, verbunden mit einem Beamtenstab und einem regelrechten Residenzbauprogramm, wie man es sonst in den Kleinstaaten selten antraf.

Residenzstadt und das Thema Nachhaltigkeit? Nachhaltige Waldbewirtschaftung der Riedesel

Aus der Zeit Lauterbachs als Haupt- und Residenzstadt sind mehrere Aspekte nachhaltigen Lebens ins 21. Jhr. Übernommen worden. Nicht nur ein bedeutender Teil der Bausubstanz Lauterbachs stammt aus dieser Zeit, sondern auch die Bautechniken geben heute wieder Anlass zur Nachahmung (Holzbau). Krisen wie den Rückgang des Waldes haben die Riedesel bereits im 18. Jhr. große Aufmerksamkeit gewidmet. Wald- und Holzverordnungen zur Verbesserung der Forsten sind hier seit dem 16. Jhr. Tradition. Menschen wie Friedrich Adolf Riedesel wurden mit Vorschlägen zur Verbesserung der Forsten um 1790 zu Pionieren ihres Faches, zumal die Riedesel oftmals selbst ausgebildete Förster waren. Aus den handwerklichen Praktiken des 18. Jhr. leiten sich heute Ideen wie „Reparaturkaffees“ ab, die darauf abzielen, Dinge länger und nachhaltiger zu verwenden, statt sie zu entsorgen. Auch Umwidmungen, wie die des ehemaligen Residenzschlosses in Stockhausen zu einer lichten und schönen Unterkunft für eine Lebensgemeinschaft erweisen sich heute als Glücksfall unter der Überschrift „Nachhaltiges Bauen“. Insbesondere die Gartenkultur des endenden 18. bzw. frühen 19. Jhr. kann heute wieder der Renaturierung der Stadtränder und der Begrünung von Altstadtflächen als Blaupause dienen.

Historische Weihnachtsgeschichte: Wie der Weihnachtsbaum nach Amerika kam

Baronin Friederike Charlotte Louise Riedesel Freifrau zu Eisenbach und Burg Lauterbach (1746-1808), eine geborene von Massow, lernte ihren Ehemann Friedrich Adolf, einen jungen Kavallerie-Offizier, im Siebenjährigen Krieg kennen. Die beiden wurden in der Folge ein glückliches Paar mit inniger Beziehung. Er war ein Haudegen, ein Mann von Welt, ein Landesregent – sie war eine belesene, aufgeklärte junge Frau ohne jegliche Berührungsängste mit den Gefahren der Welt. Als Friedrich Adolf Mitte der 1770er Jahre als Befehlshaber Braunschweigischer Truppen gegen die aufständischen britischen Kolonien nach Amerika in den Krieg ziehen musste, zögerte Friederike nicht, ihm trotz aller Gefahren mit ihren kleinen Töchtern hinterher zu reisen: zu Kutsche, zu Pferd, zu Fuß und zu Schiff. In einer waghalsigen Expedition erreichte sie bald ihren Mann auf den Schlachtfeldern Nordamerikas, wo George Washingtons Truppen gerade im Begriff waren, die Vereinigten Staaten von Amerika zu gründen und militärisch zu sichern. Die Baronin unterstützte ihren Mann seelisch und moralisch, pflegte Kranke und Verwundete, erzog ihre Kinder und wurde zu einem Dreh- und Angelpunkt der britisch-deutschen Armee und der Generalität. Doch auch mit den Gentlemen des feindlichen Lagers hielten sie und ihr Mann – typisch für die Zeit – freundschaftlichen Kontakt. Die Riedesel korrespondierten mit George Washington, dem späteren ersten Präsidenten der USA und Thomas Jefferson, der dritte Präsident, gratulierte dem Paar sogar persönlich zur Geburt eines Kindes. Nach der schmachvollen Niederlage von Saratoga 1777 gelangten die Riedesel in Gefangenschaft, sie wurden aber standesgemäß als hohe Generäle gut behandelt. Mehrfach logierten sie in guten Häusern und pflegten, so gut es ging, ihr gesellschaftliches Leben. So soll Friederike 1781 in Sorel – ganz selbstverständlich – zu Weihnachten einen Christbaum nach deutscher Tradition in ihrem Hause aufgestellt haben, was unter den Einwohnern für Verwunderung sorgte. Die Praxis hatte sich hier noch nicht verbreitet und so soll es ausgerechnet Friederike Riedesel gewesen sein, die „den Weihnachtsbaum nach Amerika brachte.“ Heute noch sind die Riedesel in den USA und Kanada populär: Im Capitol in Washington D. C. ist Friedrich Adolf Riedesel auf John Trumbulls 3,7 x 5,5 Meter großen Gemälde „Surrender of General Burgoyne“ zu sehen. Das „Marshall House“, das Friederike Riedesel als Unterschlupf diente, ist heute ein „national monument“ in den USA. In Sorel erinnert heute noch eine Silhouette eines Tannenbaumes an die Einführung der Christbaumtradition durch die Baronin und in der UNESCO-Weltkulturerbe-Stätte Monticello steht bis heute ein Klavier, dass der dritte Präsident Thomas Jefferson an Friedrich Adolf Riedesel verkaufte und bei dessen Rückreise nach Lauterbach wieder zurücknahm. Das in Philadelphia ansässige „Museum of the American Revolution“ hat Friederike Riedesel und ihrer Geschichte einen eigenen Themenbereich gewidmet. Zurück in Braunschweig, Wolfenbüttel und Lauterbach verbrachte das Paar noch einige glückliche Jahre. Friedrich Adolf starb im Januar 1800, seine Frau Friederike folgte ihm acht Jahre später ins Grab. Beide Berühmtheiten, deren Hauptwohnsitz die Burg Lauterbach war, liegen heute noch in der Gruft unter der Stadtkirche in Lauterbach begraben.